In der renommierten Zeitschrift „Diabetes aktuell“ wurde von der Gasteditorin Prof. Dr. med. Helene von Bibra das Dezemberheft 2021 zum Schwerpunktthema Lebensstil und Alltag mit ihrem Editorial und vier wissenschaftlichen Beiträgen gestaltet. Davon waren drei Themen durch den Lions Kongress „Diabetes Prävention – aktuelle Forschungsergebnisse“ im März 2021 bereits in den Blogs 12, 15 und 16 angesprochen.
Sehr bemerkenswert berichtet Dr. med. Arno de Pay im vierten Beitrag über den Zusammenhang von Zuckerkonsum und unserem (Ess-)Verhalten bis hin zur Depression. Die von vielen guten Freunden und Ärzten beklagte Antriebslosigkeit von Übergewichtigen, etwas für sich zu tun, ist also durchaus als evtl. diätetisch heilbare Folge von Stoffwechselstörungen aufzufassen. Dazu vermittelt Dr. de Pay im Interview seine Einsichten.

Essen, besonders Süßes, macht einfach Freude. Das kann doch nicht ungesund sein?

Unser Gehirnbelohnungssystem bewertet Geschmack, Geruch und das Aussehen unseres Essens, ursprünglich zur Selbsterhaltung, denn unsere jagenden Vorfahren mussten ja ausreichend Kräfte tanken. Im Gehirn werden also Botenstoffe (z.B. Dopamin) freigesetzt, die zum Empfinden von Glück und Freude beim großen Konsum von hochkalorischen und süßen Lebensmitteln führen. Das kann offensichtlich bei leichter Verfügbarkeit von Esswaren dazu verleiten, mehr zu essen als gerade nötig und zu Übergewicht führen. Problematisch ist dabei u.a. die Gewöhnungsneigung des Dopaminsystems, d.h. dass immer mehr Nahrungsartikel mit Kalorien und Süßem immer größere Belohnungserwartungen erfüllen sollen, sonst entstehen oft Unzufriedenheit und Getriebenheit.


Spielt also die Selbstkontrolle bei der Nahrungsaufnahme die entscheidende Rolle?

Nicht nur Alkohol und Drogen behindern die Selbstkontrolle und ein gezielt langsam wirkendes Gehirnbelohnungssystem beim Essen. Auch die Hungerattacken ca. 2 Stunden nach einer Mahlzeit mit sehr hohem Zucker- und Kohlenhydratgehalt stören hier. Leider aber führt diese Pseudo-Hypoglykämie zumeist zum Verzehr süßer Snacks oder von Süßgetränken, so dass im Stoffwechsel die verhängnisvolle Achterbahnfahrt von Insulin- und Zuckerspiegeln fortgeführt wird und, davon ausgelöst, erneut unbenötigte Kalorien gefuttert werden „müssen“. Und von solchem Heißhunger sind besonders schädigend Übergewichtige betroffen, die bereits Insulinresistenz haben.

Interessanterweise wurde des weiteren festgestellt, dass unzureichende Eiweißzufuhr – und das betrifft vor allem unzureichende essentielle Aminosäuren, die auch wichtige Bausteine zu Bildung der Botenstoffe Dopamin und Serotonin sind – Hungergefühl auslöst, das leider selbst mit überreichlich Fett und Kohlenhydraten allenfalls kurzfristig zu besänftigen ist.  Zusätzlich ist jedoch der Bedarf an diesen Botenstoffen auch noch erhöht unter Stressbedingungen, egal ob diese durch das soziale Umfeld oder die eigene Persönlichkeitsstruktur bedingt sind. Insgesamt führt dann der Mangel an wichtigen Aminosäuren über die Ernährung zu depressiver Verstimmung, Lust- und Mutlosigkeit, Konzentrationsproblemen und Energiemangel.

Es wird von der Sucht nach Zucker gesprochen. Wie relevant ist das?

Eigentlich soll die unter psychischer Belastung aufkommende Lust auf Süßes eine schnelle Energiezufuhr für den akut entstehenden Energiebedarf für das Gehirn bzw. Bewegungsapparat (Fight or Flight) bereitstellen. Die komplizierten, teils noch nicht endgültig erforschten Regelmechanismen der Zuckerverwertung im Stoffwechsel sind nicht stabil. Schon bei geringen Abweichungen tritt ein Gewöhnungseffekt ein, d.h. das Verlangen nach immer mehr „Stoff“, so wie man es bei einer Sucht kennt.
Ein chronisch gesteigerter Zuckerkonsum führt meist zu Insulinresistenz. Für das stressgeplagte Gehirn führt der hierdurch ausgelöste relative Zuckermangel zu Hunger auf „Stoff“, zu Dopaminabfall und schließlich auch zu Entzug von Glücksgefühl und Wohlbefinden.
Zuletzt in dieser Reihe von ernährungsbedingten  Stoffwechselstörungen führt die Überlastung der insulinproduzierenden Zellen der Bauchspeicheldrüse zu Insulinmangel, mit der Konsequenz, dass im Gehirn wichtige unterstützende aber insulinabhängige Funktionen behindert werden, bzw. ausfallen:
   – ein gestörtes Gehirnbelohnungssystem macht interessen- und freudlos,
   – das führt im Hypothalamus zu Schlafstörungen und zu mehr Hunger,
   – im Hippocampus wird die Neuroplastizität behindert. Das erschwert uns die Ausrichtung auf zukünftige Ziele, um mit den schnellen Veränderungen um uns herum noch Schritt zu halten.

Das klingt ja so, als ob Antriebslosigkeit und Depression von Zuckerkonsum ausgelöst sein können?

Aus dem bisher Gesagten wird verständlich, dass ein übermäßiger Kohlenhydratkonsum gekoppelt mit Übergewicht und Insulinresistenz zu Angststörungen und Depression führen kann. Tatsächlich gilt mancherorts in der Psychiatrie die „Zuckersucht“ als diagnostisches Kriterium verschiedener Depressionsformen. Vier häufige Mechanismen seien hier genannt, die von hohem Zuckerkonsum zur Depression führen:
   – Mit der Abstumpfung des Hirnbelohnungssystems wird die Dopamin-Ausschüttung geringer. Freudlosigkeit und Interesselosigkeit sind die Folgen.
   – Die entstehende Insulinresistenz verursacht im Gehirn Störungen der Neuroplastizität und des vegetativen Systems. Das erhöht das Risiko für Depression und Alzheimer-Demenz.
   – Durch die übermäßige Insulinausschüttung wird das Entzündungssystem aktiviert. Auch eine sog. Stille Entzündung fördert Antriebslosigkeit und Depression.
   – Das körpereigene Stresshormon Cortison steigert den Blutzuckerspiegel. So ist Stress in Kombination mit einem hohen Zuckerkonsum besonders schädigend für alle hier genannten Mechanismen.

Fazit

Das Essverhalten wird durch sehr komplexe, teils noch nicht erforschte Systeme gesteuert. Bekannt sind jedoch inzwischen einige Lebensmittel, die hier stören. Neben hohem Konsum an Zuckern bzw. Kohlenhydraten muss in diesem Zusammenhang ganz besonders auch vor stark verarbeiteten Fertigprodukten gewarnt werden, da sie u.a. zumeist viele, evtl. versteckte, Kohlenhydrate enthalten.

Übergewichtige könnten aus der eigenen Antriebslosigkeit mit dem richtigeren Essen, also ohne Hungern, herauskommen. Es geht positiv um gezielt maßvollen Genuss unter Beachtung ausreichender Eiweißzufuhr und dabei weniger Zucker und blutzuckersteigernde Kohlenhydrate
im Essen. MindCarb wünscht die richtige Beratung und viel Erfolg.